Wiedereröffnung: Berlin verwandelt Warschauer Straße in eine Autobahn

Von | 1. September 2016

IMG_20160831_194935nVier Spuren für Autos – den kärglichen Rest dürfen sich Fußgänger und Radler teilen (Foto: Witali Gerber)

Kommentar zur Eröffnung der Warschauer Straße von Dr. Ing. Tim Lehmann, Stadtplaner und Mobilitätsforscher, Initiative Volksentscheid Fahrrad

Berlin kommt der 70er-Jahre-Vision eines inneren, durchgängig vierspurig befahrbaren Kfz-Rings einen Schritt näher. Am 1. September 2016 wurde die Warschauer Straße nach umfangreichen Bauarbeiten offiziell wieder eröffnet. Der Umbau der 940 Meter langen Straße hat 4,3 Mio. € gekostet, die Umsetzung hat zwei Jahre gedauert.

Ich bin hin und her gerissen. Für Berliner Verhältnisse wurden einige Neuerungen erreicht, um die in zahlreichen Beteiligungsrunden mehrere Jahre lang im Vorfeld hart gerungen wurde. Fast kein privates Dauerparken mehr, dafür Lieferzonen und wirklich viele Fahrradbügel. Dies sind echte Erfolge, für die ich allen Beteiligten dankbar bin. 400 Fahrradbügel für 800 Fahrräder – hochgerechnet auf alle Berliner Hauptstraßen ist das sogar deutlich über dem, was das Berliner Radgesetz (RadG) vorsieht. Lieferzonen kann man in anderen Großstädten in entwickelten Ländern schon seit langem bestaunen – Berlin, willkommen in der Gegenwart! Ein konsequenter und absolut richtiger Schritt, allerdings 10 bis 20 Jahre zu spät. Aber immerhin.

Privates, kostenfreies Dauerparken nicht an Hauptstraßen anzubieten ist ebenfalls internationaler Großstadt-Standard, auch hier scheint Berlin in der Gegenwart angekommen zu sein. Indem „schöneres Parken“ über Anwohnerparkzonen eingeführt wurde, konnte die Akzeptanz bei den Bewohnern des Quartiers erreicht werden.

Autobahn-ähnliches Profil: Zwei schnell befahrbare Kfz-Spuren und eine Standspur für Kurzparker (aka Radstreifen)

Autobahn-ähnliches Profil: Zwei schnell befahrbare Kfz-Spuren und eine Standspur für Kurzparker (aka Radstreifen)

Zum fließenden Verkehr: Im Zentrum der Bemühungen stand ganz offensichtlich das Automobil. Statt vorher nur einer durchgängig befahrbaren Kfz-Spur – die andere war praktisch immer von Lieferverkehr oder Zweite-Reihe-Kurzzeitparkern blockiert – stehen nun zwei durchgängig freie Autospuren zur Verfügung, eine Verdopplung. An wichtigen Kreuzungen gibt es eine dritte Kfz-Spur für komfortables Abbiegen. Offenporiger Asphalt kompensiert zumindest einen Teil des zusätzlichen zu erwartenden Lärms. Was Luftqualität und Klima angeht, heißt es weiterhin: Augen zu und durch.

Für den Traum des vierspurigen, schnell befahrbaren inneren Rings mussten nicht nur Anwohner sondern auch die Fußgänger und Radfahrer Opfer bringen. Der Gehweg ist für eine Geschäftsstraße dermaßen schmal, dass sich eine urbane Lebensqualität nicht entwickeln kann. Für Warenauslagen oder Freisitze praktisch kein Raum. Der Radweg ist für eine der Hauptrouten mit 1,50 m viel zu eng, hier wären mindestens 2,00 m angemessen gewesen. Auch der Sicherheitsstreifen zu den parkenden Kfz ist mit 50 cm nicht ausreichend, um gefährliche Kollisionen mit unachtsam geöffneten Türen wirklich zu verhindern.

Mein Fazit: Mit dem Projekt ist Berlin der Vision eines mit Kraftfahrzeugen schnell befahrbaren inneren Rings wieder einen Schritt nähergekommen. In München gibt es das schon seit den 1970er Jahren – in Berlin ist bei der typischen Umsetzungsgeschwindigkeit mit einer Vollendung irgendwann in den 2020er Jahren zu rechnen, also etwa 50 Jahre, nachdem innere Kfz-Ringe bei Verkehrsplanern groß in Mode waren.

Bis auf das sehr gut gemeinte Fahrradparken hätte es das Projekt nicht gebraucht, um Verbesserungen für die stadtverträglichen Verkehrsarten Fuß und Rad zu erreichen. Es wirkt wie eine Geste der Entschuldigung für einen unzureichenden Radweg. Wäre die bislang zugeparkte rechte Fahrspur umgewandelt worden in einen Radstreifen mit Abtrennung zur Fahrbahn – zum Beispiel durch große Blumenkübel –, mit Sicherheitsabständen und Überholmöglichkeit, hätte man wohl deutlich schneller und kostengünstiger einen Schritt in Richtung lebenswerte Stadt gemacht.

Das Motto „Blumenkübel statt Bagger“ wäre für die Warschauer Straße wohl viel besser gewesen. Wenn Berlin in der Liga der lebenswerten Großstädte mitspielen will, ist es nun höchste Zeit für ein Umdenken – von inneren Kfz-Ringen hin zu Radschnellwegen.


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