Berlin entscheidet über seine Zukunft – Gastbeitrag von Copenhagenize.com

Volksentscheid Fahrrad-Team mit Mikael Colville-Andersen (Foto: Antonia-Richter)

Volksentscheid-Fahrrad-Team mit Mikael Colville-Andersen (zweiter von links, Foto: Antonia Richter)

Dieser Artikel ist im Original auf Englisch auf der Website Copenhagenize.com erschienen. Der Text ist lang, aber es lohnt sich, dran zu bleiben. Copenhagenize wurde – ebenso wie Copenhagen Cycle Chic – von Mikael Colville-Andersen aus Kopenhagen gegründet. Die beiden Websites gehören zu den weltweit bekanntesten und einflussreichsten Websites über städtisches Radfahren. Mikael Colville-Andersen berät mit seiner Copenhagenize Design Company Städte in aller Welt bei der fahrradfreundlichen Gestaltung ihrer Infrastruktur. Der Artikel selbst wurde verfasst von Leon Legeland, Stadtplaner bei der Copenhagenize Design Company. Aufgewachsen ist er in Deutschlands fahrradunfreundlichster Stadt Wiesbaden und unterstützt nun engagiert mit Copenhagenize Städte dabei, das Fahrrad als Verkehrsmittel wieder ernst zu nehmen. 

Als der Artikel auf Englisch erschien, war unsere Freude groß, da wir zunächst eine sehr treffende Analyse der Berliner Verkehrspolitik lesen durften und anschließend ein Lob über uns selbst, welches uns die Schamesröte ins Gesicht trieb. Damit nicht genug: Beim VivaVelo-Kongress der Fahrradbranche Mitte April hatten einige von unserem Team die Möglichkeit, Mikael persönlich zu treffen (siehe Foto). Seine lobenden Worte über den Volksentscheid Fahrrad wiederholte er vor der versammelten deutschen Fahrradbranche. Wir freuen uns sehr und bedanken uns, diesen gut recherchierten Beitrag von Copenhagenize über Berlin und den Volksentscheid Fahrrad hier auf Deutsch veröffentlichen zu dürfen:

Anlässlich der Eröffnungsrede Mikaels auf dem diesjährigen VivaVelo-Kongress der deutschen Fahrradbranche am 18. April 2016 in Berlin haben wir von Copenhagenize einen genaueren Blick auf den Status quo und momentanen Hype ums Radfahren in der deutschen Hauptstadt geworfen.

Im Copenhagenize Index von 2015 ist Berlin vom fünften (2011) auf den zwölften Platz abgerutscht. Die Stadt ist zwar immer noch unter den Top 20, aber in welche Richtung geht es in den nächsten Jahren? Von den aktuellen Entwicklungen in der Stadt stimmen uns verschiedene optimistisch, andere hingegen stoßen uns sauer auf.

Alles in allem verläuft die Entwicklung in der Stadt unfassbar langsam und ist im letzten Jahrhundert verhaftet.

Offensichtlich gibt es einen großen Unterschied zwischen den Plänen und Visionen der Stadt und dem, was tatsächlich passiert und umgesetzt wird (oder eben nicht). Der Berliner Senat sieht zwar ein, dass Radfahren in der Stadt die Lebensqualität steigert und dass es gefördert und unterstützt werden sollte. Offiziell klingt die Fahrradstrategie vielversprechend und visionär – besser als in vielen anderen Städten.

Die Stadt strebt an, bis 2025 einen Fahrradanteil am Modal Split [der Anteil der gefahrenen Wege je Verkehrsmittel, Anm. d. Red.] von 20 Prozent zu erreichen, will in Infrastruktur und Abstellplätze fürs Fahrrad investieren und die Stadt insgesamt fahrradfreundlicher gestalten. Im Zuge dessen hatte der Senat zum Beispiel eine Online-Plattform eingerichtet, auf der 50 gefährliche Kreuzungen identifiziert und diskutiert wurden, die als erste fahrradfreundlicher umgebaut werden sollten. Eine intelligente Idee, um lokale Bedürfnisse und Probleme direkt aus Perspektive der Radfahrer zu erfahren. All das klingt gut und schön – die Berliner Realität sieht jedoch ganz anders aus.

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Von den 50 Kreuzungen wurden in den letzten drei Jahren nur drei umgestaltet. Dabei ist gerade an Kreuzungen der Aspekt der Sicherheit entscheidend. Seit dem Jahr 2000 sind in Berlin fast 200 Radfahrerinnen und Radfahrer ums Leben gekommen. Eine Katastrophe! Doch anstatt gefährliche Kreuzungen rasch umzugestalten und Infrastruktur nach bewährten Konzepten umzusetzen, präsentierte die Stadt lediglich ihren eigenen Unwillen zur Verbesserung der Situation in großen digitalen Anzeigen für Autofahrer (siehe oben, in dieser Facebook-Gruppe gesehen).

Auf diesen Anzeigen war unter anderem zu lesen:

„2015: 10 getötete Radfahrer! Beim Überholen mind. 1,5m Abstand”

„Alle zwei Stunden ein Fahrradunfall! Mind. 1,5m Abstand halten“

Tolle Idee, wenn auch primitiv: Autofahrer dafür zu sensibilisieren, dass es Radfahrer in der Stadt gibt. Vor allem aber wird mit dieser Aktion das Fahrradfahren in der Stadt als gefährlich etikettiert. Wenig Motivation für Autofahrer, sich für ein anderes Transportmittel zu entscheiden – obwohl gerade sie viele der Probleme in unseren Städten verursachen. Insgesamt zeigt diese Aktion in aller Deutlichkeit, wie rückständig, unzulänglich und inkompetent die aktuelle Verkehrs- und Straßenplanung in Berlin ist.

Dabei ist die Lösung simpel: adäquate, geschützte Fahrradwege bauen und Kreuzungen sicherer gestalten! Man bräuchte keine Warnungen, man müsste Fahrradfahren nicht als gefährlich verteufeln und würde erhebliche Kosten im Gesundheitswesen sparen.

Da die Stadt die digitalen Anzeigen nun schon aufgestellt hat, könnten darauf die Vorzüge des Fahrradfahrens kommuniziert werden. Spontan kommen uns folgende Ideen:

„Berliner verbringen 100 Stunden pro Jahr im Stau. Fahren Sie Fahrrad!“

„Berlin ist eine der schmutzigsten Städte Deutschlands! Lassen Sie das Auto stehen.“

„500.000 Berliner Wohnungen sind von Lärmbelästigung durch Autos betroffen – nehmen Sie das Fahrrad oder die Bahn!“

Es ist schon schlimm genug, Geld für digitale Anzeigen zu verschwenden. Noch viel schlimmer ist, dass Berlin sein jährliches Budget für die Fahrradinfrastruktur nicht ausschöpft. Der Senat hat in den vergangenen fünf Jahren 4,6 Millionen Euro, die bereits zur Verfügung standen, nicht ausgegeben. Pro Kopf investiert die Stadt 3,80 Euro in die Fahrradinfrastruktur. Der Vergleich zu Kopenhagen ist peinlich: Dort sind es 25 Euro pro Kopf. In Oslo sind es sogar 35 Euro. Doch selbst Städte wie Paris, London oder Madrid geben mehr als 12 Euro pro Kopf aus.

Berlin gibt also nicht einmal das Geld aus, das zur Verfügung steht – ganz zu schweigen davon, mehr Geld in die Modernisierung des Transportsystems zu investieren und mit der globalen Entwicklung mitzuhalten. Die Berliner Morgenpost hat kürzlich alle Straßen der Stadt mit Blick auf ihre Fahrradtauglichkeit geprüft und kartiert. Das Ergebnis: 55 Prozent aller Hauptstraßen verfügen über eine Art von „Infrastruktur“. Das klingt nicht schlecht, jedoch sind in dieser Zahl auch schmale Fahrbahnmarkierungen und für Radfahrer freigegebene Busspuren enthalten. Die aufgemalten Fahrradstreifen sind in den meisten Fällen nur 1,6 Meter breit, also weit entfernt von den 2,5 Metern, die als Best Practice gelten. Hinzu kommt, dass diese Streifen in Berlin ständig von Autos zugeparkt sind.

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Darüber hinaus kam die Studie zu dem Ergebnis, dass 338 Berliner Hauptstraßen überhaupt keine Infrastruktur für Fahrräder aufweisen. In Berlin ist Fahrradfahren also alles andere als intuitiv. Es ist verwirrend und unübersichtlich. Die Infrastruktur weist keine einheitliche Gestaltung auf, und es existiert kein zusammenhängendes, flächendeckendes Netzwerk. Berlin ist ein Infrastruktur-Museum für Radverkehr.

Nochmal zusammengefasst: Auf die vollmundigen Ankündigungen des Senats folgen keine Taten. Fortschritt vollzieht sich unerträglich langsam. Es sind kaum „Best Practices“ etabliert, geschweige denn ein zusammenhängendes Netzwerk. Fahrradfahren in Berlin ist und bleibt eine gefährliche, unübersichtliche Art der Fortbewegung. Die Politik schiebt das auf das komplexe Verwaltungsgeflecht auf Senats- und Bezirksebene sowie den Mangel an qualifiziertem Personal für Radprojekte. Das Geld ist also da – aber niemand, der es investiert.

Berlin A100

Dabei ist es nicht so, dass in Berlin nichts passiert. Das aktuell größte Infrastrukturprojekt der Stadt, an dem derzeit gebaut wird, ist die Verlängerung der Autobahn A100 von Neukölln nach Treptow. Sie haben richtig gelesen: eine innerstädtische Autobahn im Jahr 2016. Absurd!

Und was bekommt die Stadt für stolze 480.000.000 Euro? Eine Wahnsinnsautobahn: 3,2 km lang, sechsspurig und vom Senat angepriesen als „ein Stück Berlin“. Es werden die gleichen Dinge gesagt wie seit 60 Jahren: Die neue Autobahn wird wie von Zauberhand den Verkehrsfluss in der Stadt verbessern, die Lebensqualität erhöhen und Autoverkehr und Staus reduzieren. Leider hat dies in den letzten 100 Jahren keine Autobahn der Welt geschafft.

Das ist die einzige Lektion des letzten Jahrhunderts: Wer mehr Platz für Autos schafft, bekommt mehr Autos. Das Verkehrsaufkommen in Berlin wird entweder gleichbleiben oder höchstwahrscheinlich noch schlimmer werden. Eine sechsspurige Autobahn kann die Lebensqualität nicht verbessern. In anderen Städten werden diese monumentalen Fehler des letzten Jahrhunderts abgewickelt, nicht ausgebaut.

Für den Ausbau der A100 müssen Wohngebäude abgerissen, hunderte Bäume gefällt und eine alte Deponie verlegt werden. Der Bau wird durch den hohen Grundwasserstand, Lärmschutzauflagen usw. erheblich verkompliziert. Die Verlängerung der A100 ist ein Spielplatz für wahnsinnige Autobahningenieure, aber kein „Stück Berlin“.

Und es kommt noch schlimmer: Ein weiterer Ausbau der A100 (weitere 4,1 km) ist in Vorbereitung und wird wohl in den nächsten zwei Jahren genehmigt. Ein Kostenvoranschlag bezifferte die Baukosten mit einer Milliarde Euro, da ein Tunnel unter der Spree gegraben werden müsste. Dazu kämen der übliche Abriss diverser Gebäude, die Räumung von Clubs und Kulturzentren und noch mehr gefällte Bäume. Hoffentlich können die Berlinerinnen und Berliner diesen Irrsinn noch stoppen.

Es ist schon verrückt: Die Stadt kann eine hochkomplizierte Riesenautobahn für insgesamt 1,4 Milliarden Euro planen, genehmigen, finanzieren und bauen, während kein Geld dafür da sein soll, für weitaus mehr Menschen eine einheitliche, seit über 100 Jahren bewährte Fahrradinfrastruktur einzurichten.

Berlin wird, mehr als andere Städte, von seiner Bevölkerung geprägt. Und das wird ihr immer stärker bewusst. Der Modal Split liegt in der Innenstadt bei 18 Prozent für Fahrräder und 17 Prozent für Autos. Radfahren in der Stadt ist bereits alltäglich und liegt im Mainstream. Gerade deshalb birgt es noch ein großes Wachstumspotenzial. Jedes Jahr steigt der Radanteil um 5 Prozent, obwohl nur 3 Prozent des Verkehrsraums für Fahrräder vorgesehen sind. Alles was Berlin jetzt noch braucht, sind Politiker, die im 21. Jahrhundert angekommen sind.

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Die Bürgerinnen und Bürger nehmen es also selbst in die Hand. Eine ehrgeizige Gruppe von Aktivisten, Planern und Bürgern, die sich im Alltag mit dem Rad durch die Stadt bewegen, hat die Nase voll von der Untätigkeit des Berliner Senats.

Hinter dem Volksentscheid Fahrrad steckt eine Initiative, die den Senat aus dem Schlaf rüttelt und darauf drängt, Berlin als fahrradfreundliche Stadt zu gestalten. Die Initiative hat zehn Ziele formuliert, die in das erste deutsche Fahrradgesetz aufgenommen wurden: 350 km Fahrradstraßen, sichere Fahrrad-Infrastruktur an allen Hauptstraßen, die Entschärfung von 75 gefährlichen Kreuzungen pro Jahr, schnelle Instandhaltung und Reparatur von Fahrradwegen, 200.000 Fahrradabstellplätze, 50 Abschnitte mit grüner Welle für Fahrräder, 100 km Radschnellwege, Fahrradstaffeln der Polizei, mehr Planerstellen und zentrale Fachabteilungen sowie eine Kampagne, die Berlin zu einer fahrradfreundlichen Stadt machen soll. Alle Ziele des Volksentscheid Fahrrad sind an einen Zeitplan geknüpft, das Ziel ist eine Abstimmung zur Bundestagswahl im Herbst 2017.

Die zehn Ziele ausformuliert.

Es gibt viele großartige Aktivisten auf dieser Welt, aber diese Gruppe hebt sich deutlich von anderen Initiativen ab. Selbst der Berliner Verband des ADFC, der für seinen Unmut über die Infrastruktur berüchtigt und von dieser Denkschule geprägt ist, unterstützt nun glücklicherweise den Volksentscheid.

Auch wenn das alles sehr optimistisch klingt, darf nicht vergessen werden: Die ehrgeizigen Ziele des Volksentscheids kosten gerade so viel wie ein Kilometer des A100-Ausbaus. Mehr nicht. Hinzu kommt, dass ein Kilometer Radweg sich nach weniger als fünf Jahren amortisiert. Somit bringen die Pläne des Volksentscheids der Stadt langfristig Geld ein – was die A100 nie schaffen wird.

Obwohl Autos eine Minderheit unter den Verkehrsmitteln darstellen, gibt die Stadt unverschämte und unverhältnismäßige Beträge aus, um den Autoverkehr zu steigern. Der Volksentscheid Fahrrad hat eine überfällige Diskussion über Modernität ins Rollen gebracht und Druck auf die Politik ausgeübt. Anstelle der üblichen, ineffektiven Critical-Mass-Veranstaltungen hat die Gruppe um den Volksentscheid einen intelligenten Weg gefunden, ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen – sie zeigt Alternativen und Möglichkeiten auf. Dieses Jahr wählt Berlin einen neuen Senat, und Radfahren ist inzwischen zum Wahlkampfthema geworden. Der Volksentscheid und seine Ziele bekommen viel Aufmerksamkeit in den Medien, was die politische Debatte weiter anheizt.

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Wir von Copenhagenize Design Co. unterstützen die Ziele und Pläne des Volksentscheid Fahrrad. Berlin kann so viel mehr – jetzt ist der richtige Zeitpunkt, die rückwärtsgewandte Verkehrspolitik zu beenden. Es ist Zeit für eine moderne Mobilitätspolitik.

 

Hier geht es zum Originaltext.


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